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Wie ist es, ein Pflegekind in die Selbstständigkeit zu entlassen? Wer entscheidet eigentlich über den richtigen Zeitpunkt und warum wird gerade von Pflegekindern erwartet, dass sie mit ihrem 18. Geburtstag auch tatsächlich erwachsen sind? Wie stehen die Chancen für behinderte Pflegekinder, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden?

Als Pflege- und Adoptivmutter von 2 Kindern im Alter von 7 und 11 Jahren steht diese Entscheidung bei mir persönlich noch nicht an, jedoch erlebe ich im Rahmen meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorsitzende des Landesverband für Pflege- und Adoptivfamilien Pfad Niedersachsen täglich die große Unsicherheit hinsichtlich der genannten Verselbstständigung von Pflegekindern. Natürlich gibt es viele gut gelingende Übergänge, nach denen alle Beteiligten glücklich und zufrieden leben. Aus und von diesen positiven Beispielen müssen wir lernen, was es braucht, um die Perspektive für die jungen Menschen so positiv wie möglich zu erarbeiten. Welche Ressourcen und Infrastrukturen wurden genutzt? Wie viel Zeit stellte man den Familien zur Verfügung? Denn: viele, ja viel zu viele junge Erwachsene, die aus der Jugendhilfe kommen, sind obdachlos, straffällig, psychisch krank oder in verschiedenen Bereichen von Sucht betroffen. Wie konnte es dazu kommen? Wer oder was hat versagt? Können wir als Gesellschaft
es tatenlos hinnehmen?

Pflegeverhältnisse, vor allem auch die mit behinderten Pflegekindern (körperlich/geistig/sozial-emotional), sind häufig schon lange vor Erlangung der Volljährigkeit von vielen Talfahrten durchzogen. Oft werden scheinbar gesunde Kinder vermittelt. Schnell stellen sich im Alltag der Pflegefamilien die Verhaltens und Entwicklungsstörungen als große Herausforderung dar. Viele Jugendämter leiden unter enormen Personalmangel und somit ist eine engmaschige Unterstützung der Familien nicht möglich. Wir erleben auch häufig, gerade in Bezug auf FASD, dass die Probleme der Kinder negiert bzw. klein geredet werden
und die Familien entweder aufgeben, oder sich eigenmächtig auf den Weg machen. Hier erleben wir immer häufiger hoch aufgeklärte und gut informierte Pflegeeltern, die vieles auf sich nehmen, um den Kindern weiterhin den schützenden und so wichtigen Rahmen einer Familie bieten zu können. Selbstverständlich lieben sie die ihnen anvertrauten Kinder und empfinden das Zusammenleben als große Bereicherung. Jedes Kind ist wunderbar. Von Luft und Liebe lässt es sich jedoch nicht allein leben. Deshalb sind die Unterstützung und Begleitung durch die Jugend- und Sozialämter immens wichtig. Die individuellen Bedarfe der Kinder müssen gesehen und anerkannt werden. Pflegefamilien verbringen viel zu viel Zeit und Kraft damit, sich für die Rechte der Kinder und deren Bedarfe zu streiten. Von einer Wertschätzung kann man in diesem Zusammenhang oft nicht sprechen.

Wie fühlt es sich an als Familie, bereits im Jugendalter über die Verselbstständigung zu planen und zu entscheiden? Erfahrungsgemäß haben Pflegekinder einschneidende Erlebnisse, Traumatisierungen u. ä. erlitten, bevor sie in die Familien kamen und erleben diese auch nach Unterbringung in der Pflegefamilie immer wieder. Noch immer werden Umgangskontakte nicht ausschließlich zum Kindeswohl durchgeführt. All diese Erlebnisse, Traumatisierungen und Retraumatisierungen können die Entwicklung beeinflussen und tun das in der Regel auch. Unter Umständen kann das bedeuten, dass Flügel erwartet werden, obwohl die Wurzeln vielleicht noch keinen festen Halt gefunden haben. Das verunsichert die ganze Familie. Immer wieder stellen wir fest, dass den Kindern und Jugendlichen einfach Zeit fehlt, Zeit in der kein Druck aufgebaut wird, Zeit, in Ruhe nach einer passenden Ausbildung zu suchen und zur Not auch Zeit um mal zu scheitern. Wie alle Teenager, haben auch unsere Jugendlichen den verständlichen und natürlichen Drang nach Freiheit,  Autonomie und Selbstbestimmung. An der Stelle kommt es, wie übrigens auch in normalen Herkunftsfamilien, oft zu pubertären Konflikten und Auseinandersetzungen, welche im Hinblick auf Bindungsstörungen und
Einschränkungen im sozial-emotionalen Bereich noch intensiver von den Familien erlebt und ausgehalten werden als in „normalen“ Familien. In dieser kritischen Phase können die Jugendlichen und auch die Pflegeeltern sich verständlicherweise nicht mit der Verselbstständigung befassen, sondern brauchen ihre Kraft für die aktuelle Situation.

Im Durchschnitt verlassen junge Erwachsene, die in ihrer Herkunftsfamilie leben, diese mit 25 Jahren. Ausbildung, Studium etc. verlangen den jungen Menschen einiges ab und immer wieder wird auf die Hilfe der Eltern zurückgegriffen; als Ratgeber, für Finanzspritzen, für Obdach usw. Viele Pflegekinder stehen mit Eintritt ins Erwachsenenalter allein ohne Hilfe da. Nicht selten ist es ein selbstgewählter Zustand. Der Drang nach Autonomie ist gerade bei unseren Kindern groß. Hier braucht es meiner Auffassung nach eine Art Rückkehroption ohne großes Drama und Anträge.

Speziell bei behinderten Pflegekindern braucht es nach dem Eintritt ins Erwachsenenleben eine Art „Helferteam“, d. h. systemübergreifende Konferenzen, bei denen auch die bestehenden Bindungen und Beziehungen zur Pflegefamilie Gehör und Gewicht finden. Pflegefamilien, besonders auch die von behinderten Pflegekindern, sind es gewohnt, ihre Schützlinge zu „übersetzen“ – sie sind die Profis für die Kinder, die zwangsläufig andere Anforderungen stellen. Leider werden Pflegefamilien in späteren Hilfemaßnahmen nicht mehr berücksichtigt bzw. sogar als lästig empfunden und nicht selten führt das zu Abbrüchen der Hilfsmaßnahmen. Auch bei den gesetzlichen Betreuungen wird zu häufig die große Diskrepanz zwischen den scheinbaren und tatsächlichen Fähigkeiten nicht erkannt und die zugeschriebene Mitwirkungspflicht der zu Betreuenden ist ohne engmaschige Unterstützung bei den vielen nötigen Zwischenschritten (Terminplanung, Telefonate, Fahrten zu den entsprechenden Stellen etc.) nicht zu erwarten.

Häufig ergeben sich aus der Ideologie von Selbstbestimmung und Autonomie Aspekte einer verweigerten bzw. unterlassenen Hilfeleistung. Jemand muss die Betroffenen mehr oder weniger zwingen.

Die UN-Konvention präzisiert aus der Perspektive der behinderten Menschen die gültigen Menschenrechte und fordert deren uneingeschränkte Anwendung im Kontext der besonderen Lebenssituationen behinderter Menschen. Sie fordert daher kein privilegiertes Sonderrecht für behinderte Menschen, sondern die konsequente Durchsetzung sämtlicher Rechte. Also der barrierefreie Zugang zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt sowie zu Gesundheit, Bildung, Information und Kommunikation. (Aus: „Suchtgefährdete Erwachsene mit Fetalen Alkoholspektrumstörungen – Becker, Hennicke, Klein – Abschnitt 1.2.2-1.3).

Ein großer Störfaktor bei der Verselbstständigung von Pflegekindern ist z. Zt noch die Kostenheranziehung von 75% ihres erwirtschafteten Einkommens, solange sie in der Pflegefamilie oder im Heim untergebracht sind. Dies stellt nach unserer Auffassung eine große Benachteiligung dar. Wir hoffen auf die baldige Entscheidung für die komplette Abschaffung, damit auch unsere Kinder sich ein Polster für einen guten Start in die Selbstständigkeit anlegen können.

Wir hoffen und arbeiten daran, dass die Übergänge gut gelingen, die jungen Erwachsenen soviel Autonomie wie möglich und so viel Schutz und Hilfe wie nötig erhalten und somit ein gesunder Abnabelungsprozess in einem individuellen Tempe erfolgen kann. Es muss Ziel und Bestreben aller Beteiligten sein, dass die Investition des Staates in das Kind in Form von Jugendhilfe und vor allem die emotionale Bindung/Beziehung zur Pflegefamilie nachhaltig erhalten bleiben und nicht wie bisher viel zu oft als geschlossenes Aktenzeichen im Archiv landen.

Nevim Krüger
Pflege- und Adoptivmutter
Vorsitzende des LV Pfad-Niedersachen e. V.
Landesverband der Adoptiv- und Pflegefamilien in Niedersachsen